Mirrím
Morwen saß eine ganze Weile alleine am Tisch.
Es war noch dunkel, und nur aus der Küche waren leise Geräusche zu hören, wo eines der Dienstmädchen bereits die Brötchen fürs Frühstück buk.
Erstaunlich, zu was sich der stets übel gelaunte, unfreundliche Wirt überwinden konnte, wenn Joreths dicke Geldbörse winkte...
Ein unmerklich leichter Luftzug durch die nicht ganz dichten Fenster ließ die Spinnweben an den staubigen Balken erzittern.
Morwen versank im Nichts zwischen lähmender Müdigkeit und der hypnotisierenden Wirkung der leichten Bewegung der grauen, staubigen Fäden.
Sie bemerkte es nicht, als Amaion schließlich herunterkam und sich stumm und leise zu ihr an den Tisch setzte.
Als sich jedoch die Außentür mit einem deutlich hörbaren Knarren öffnete, sah sich die junge Assassin irritiert nach der Geräuschquelle um.
Eine alte Frau stand in der Tür.
Gut, Morwen hatte schon ältere Menschen gesehen, aber man sah, dass diese Frau nicht die Gesündeste war. Wahrscheinlich war es lange her, das sie den Zustand „gesund“ für sich als Beschreibung in Anspruch nehmen konnte.
Sie stützte sich schwer auf ihren Stock, und obwohl sie sich sehr aufrecht hielt, schienen die Bewegungen Mühe zu bereiten.
Die Frau ließ ihren suchenden Blick durch den fast menschenleeren Raum schweifen, und als er an Morwens Tisch angekommen war, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Es hatte etwas friedliches an sich.
Man konnte sehen, dass diese Frau einen Inhalt in ihrem Leben hatte – oder gehabt hatte, und dass sie zufrieden war, mit sich und der Welt.
Amaion atmete hörbar aus und schob den Stuhl zurück.
Er sah, dass die Assassin neben ihm zusammenfuhr, hatte sie doch bisher keine Notiz von seiner Anwesenheit genommen, aber das kümmerte ihn nicht.
Er stand auf und ging der Frau langsam entgegen, und das, was Morwen in seinen Augen erkennen konnte, versetzte ihrem Herzen einen leichten Stich.
Seine Augen leuchteten – als wäre soeben die Sonne aufgegangen.
So sah auch Tscha Micaya an, oder Micaya Tscha.
Und genau dieses Leuchten spiegelte sich in den Augen der alten Frau, die nun ihren Stock fallen ließ, um in der Umarmung des Necromancers zu versinken.
__„Mirrím...“
Er schob sie ein Wenig von sich fort, um ihr Gesicht in die Hände zu nehmen und sie mit einer unglaublichen Zärtlichkeit zu küssen.
__„Wie hast Du mich gefunden?“
Die Frau strich mit einer faltigen Hand sanft über das junge, schöne Gesicht des Necromancers.
__„Ich habe Dir versprochen, dass ich komme, wenn Du mich rufst. Dieses Versprechen habe ich nun eingelöst. Willst Du mich ein Stück auf meinem Heimweg begleiten?“
Amaion bückte sich, um den Stock aufzuheben.
Dann legte er einen Arm um die Frau und wandte sich zur Tür.
__„Ich komme mit Dir, wohin immer Du wünschst. Zu lange habe ich Dich alleine gelassen...“
Mirrím lächelte.
Auf Einmal wirkte sie wie ein junges Mädchen, sie sah aus wie etwas besonderes.
__„Nur ein Stückchen, Dein Platz ist hier. Und meiner bei meiner Familie.“
Amaion war nicht lange fort.
Er setzte sich wortlos wieder zu Morwen an den Tisch, die ihn neugierig musterte.
__„Wer war die Frau, und warum meinte sie, Du hättest sie gerufen?“
Amaion kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment kam Joreth zur Tür herein.
Mit den Worten: „Meine Güte, habe ich einen Schwachsinn geträumt...“ setzte er sich an den Tisch.
Dann wandte er sich seinem Bruder zu.
__„Erinnerst Du Dich an dieses unscheinbare Mädchen? Sie war ein paar Jahre jünger als Du, und die Einzige, die diese Krankheit überlebt hat – abgesehen von Dir...“
Das Gesicht des Jüngeren zeigte ein träumerisches Lächeln.
__„Mirrím...“
__„Ich habe geträumt, ich hätte sie geküsst...“
Amaion lachte verlegen.
__„Tut mir leid, ich glaub, ich hatte meine Abschirmung nicht vollständig im Griff...“
Joreths Blick zeigte große Verwunderung.
__„Ich dachte, du hättest keine Notiz mehr von ihr genommen, nachdem Du wieder gesund warst...“
Der Blick des Jüngeren veränderte sich. Man sah großen Kummer darin.
__„Erinnere mich nicht daran. Die Gegenwart eines Dämons kann oft vieles überdecken, und mir, als dem, der immer das Nichts gewesen war, hat es zu gut gefallen, im Mittelpunkt zu stehen. Deshalb blieb uns ja nur diese eine Nacht...“
Man konnte sehen, dass er wieder ins Träumen geriet.
__„Es war der Abend, bevor ich unser Dorf verlassen habe. Ein paar der Mädels hatten herausgefunden, dass ich fort wollte, und sie wollten sich von mir auf ihre Art und Weise verabschieden.“
Amaion lachte.
__„Für den dämonischen Teil von mir wäre dies nichts Neues gewesen, aber ich wollte nicht, dass der Menschliche Teil als erste Erfahrung so etwas ohne Gefühl dahinter hat.“
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er gestand:
__„Ok, mein dämonisches Ich wollte es auch nicht. Nicht nach...“
Nein, das wollte er nicht erzählen.
__„Jedenfalls bin ich zu dem großen Baum auf der Klippe geflüchtet und in die Krone geklettert. Mirrím war schon dort. Ich habe keine Ahnung, wie sie es geschafft hat, mit ihren teilweise gelähmten Armen und Beinen dort hinaufzuklettern, aber sie saß ganz oben – und sie war wütend. Sie hatte nicht erwartet, dort gestört zu werden. Ich auch nicht, und so haben wir uns ungefähr eine halbe Stunde gestritten, wer die älteren Rechte an diesem Versteck hat...“
__„Warum bist Du überhaupt hier hergekommen? Ich dachte, Du hättest genug Beschäftigung...“
Der weißhaarige junge Mann senkte den Kopf.
__„Genau das war das Problem. Ich wollte meine Ruhe haben. Sie wollten ... diesen Körper, und sie wollten es, weil es die letzte Gelegenheit war. Ich bin morgen weg, dann hast Du den Baum wieder für Dich.“
Amaion hatte seine Augen geschlossen und den Kopf seitlich an die kühle Rinde des Stammes gelehnt. Er roch Baumharz und Moos, sowie den einen oder anderen Baumpilz, der, von der Sommersonne durchwärmt, einen leicht moderigen Geruch von Wald verströmte.
Mirrím schwieg.
Ein leises Rascheln erklang, als das Mädchen seine Position im Geäst änderte.
Gut, sie hatte aufgegeben, damit war der Abend in Frieden abzuschließen.
Warme Lippen berührten die Seinen, und Amaion verlor das Gleichgewicht.
Eine leicht verzogene Hand hielt ihn an der Schulter fest.
__„Das war dafür, dass Du die nicht wolltest. Ich gehe nach Hause.“
Diesmal war es Amaions Hand, die nach dem Arm des Mädchens griff.
__„Bleib, vielleicht ist es ja doch nicht so schlecht, nicht alleine zu sein... Du hast mich ja auch nicht im Stich gelassen, als wir krank waren, und um uns die Betten leerer und leerer wurden...“
Mirrím lächelte.
__„Ich hatte es Dir versprochen. Ich dachte, Du hättest es vergessen.“
Als sie schließlich vom Baum geklettert waren, gingen sie Hand in Hand weiter...
Amaion riss sich mühsam aus seinen Erinnerungen.
Wenn er jetzt weiter träumte, würde seine Abschirmung wieder zu dünn werden um die anderen auszuschließen.
__„Sie hat mir versprochen, zu kommen, wenn ich sie rufe. All die Jahre hat sie gewartet, und ich habe nichtmal an sie gedacht...“
__„Mirrím war hier?“
Der Jüngere nickte.
__„Und sie hat mich glücklicher gemacht als jemals irgendein Mensch ...“
Morwen starrte stumm an der Wand.
__„Was würde ich dafür geben, meine erste Liebe noch einmal wiederzusehen, aber ich war gezwungen, zuzusehen, wie sie ihn bei lebendigem Leibe verbrannt haben. Weil ich nicht wusste, was sie von mir wollten...“ murmelte sie.
Aber sie hatte sich schnell wieder im Griff.
Mit angestrengter Neugier sah sie Amaion an.
__„Wasfür eine Krankheit war das, die ihr da hattet?“
Der Necromancer schüttelte sich bei der Erinnerung.
__„Wir wissen es nicht. Sie kam mit hohem Fieber...“
Joreth übernahm.
__„Hochgradig ansteckend, aber nur für Kinder. Und eigentlich immer tödlich. Einige Jahrgänge sind fast vollständig ausgestorben. Soweit ich weiß, hat es in ein paar Dörfer vereinzelte Überlebende gegeben, die aber, wie Mirrím, alle hinterher verkrüppelt waren... Was Amaion anbelangt, bei ihm haben sich irgendwann die Symptome gewandelt. Er hat um sich geschlagen, gewütet, getobt. Es war der Dämon, der nicht verstand, warum ihn seine Suche nach dem perfekten Wirt in dieses sterbenskranke Kind geführt hatte.“
Morwen schüttelte den Kopf.
__„Ich habe noch nie davon gehört.“
Amaion lächelte schwach.
__„Ich war ein Kind damals. Es ist die Generation Deiner Großeltern, die betroffen war, und man hat nie gerne davon geredet. Man hielt es für einen Fluch – ich glaube, es waren Grabräuber, die ihre Finger in Ecken hatten, die aus gutem Grund verborgen und verschlossen waren.“
Die Unterhaltung wurde unsanft unterbrochen, als Micaya die Treppe herunterkam.
Sie ging sofort zu Amaion und versetzte ihm erstmal eine schallende Ohrfeige.
__„Behalte Deine Gedanken besser für Dich, ich fand das ausgesprochen störend vorher!“
Amaion verzog das Gesicht.
__„Es war nicht meine Absicht. Ich werde versuchen, mich besser von euch abzuschirmen...“
er sah Morwen an und lächelte schwach.
_Du siehst, Abschirmung ist etwas ausgesprochen wertvolles. Je mehr Du von Deinen Fähigkeiten beherrschst, desto lauter sendest Du auch. Gut, Joreth und Micaya sind in diesem Fall auch eine Sonder-Geschichte, immerhin hat Micaya jahrelang mein Bett geteilt und ist daher für solche Dinge bei mir empfänglich. Und Joreth ... ist mein Bruder ...
Er legte der älteren Assassin sanft die Hand auf den Arm, um sie ein wenig zu beruhigen und eine sichere Kommunikation zu vereinfachen.
_Ich wollte Deine Träume wirklich nicht stören, Micaya. Joreth hat es auch gefühlt – über Dich...
Micaya sah den Necromancer wütend an.
_Ich war wach.
Amaion atmete auf.
Vor lauter Wut hatte die Assassin nicht bemerkt, was er meinte.
Er beschloss, ihr etwas anderes zum Grübeln zu geben.
__„Du hast Mirrím gesehen, in meinem Traum. Sie war vor Dir die Einzige, die mein Herz in ihren Händen gehalten hat. Und?“
Micaya lachte verlegen.
__„Ich muss sagen, ich war etwas überrascht, normalerweise ziehst Du doch klassische Schönheiten vor...“
Amaions warmes Lächeln war wie ein Sonnenschein.
__„Niemand war überraschter als ich. Und auch jetzt, wo sie alt ist, fühlt sich ihr Lächeln noch immer genauso wunderbar an... Du hast mich an sie erinnert, weißt Du das? Ich wollte das nicht wieder verlieren.“
Micaya seufzte.
__„Ach, Amaion, warum hast Du mir das nicht früher gesagt...“
Sie brach ab, als Tscha die Treppe herab kam.
Amaion zog eine Augenbraue hoch und wandte sich an Morwen.
_Sieh sie Dir an, nicht mit den Augen, sondern mit dem Geist, und sag mir, was Du siehst...
Morwen gehorchte.
Ein Licht, wie goldener Staub, wirbelte um die Füße aller Anwesenden, und in einem ständigen Fluss tauschten alle diese Teilchen aus.
Allerdings waren sie zwischen Micaya und Tscha zu einem deutlichen, leuchten Band verdichtet, und als sie sich umsah, fand sie ein ähnliches, allerdings etwas ausgefranstes Band zwischen Micaya und Amaion.
Der Staub, der von Amaion ausging, umhüllte sie selber wie eine schützende Kugel, was ihr ein angenehmes Gefühl der Sicherheit vermittelte.
Als sie sich jedoch Joreth zuwandte, sah sie zu ihrem Schrecken, dass auch er mit Micaya durch ein ähnliches leuchtendes Band verbunden war wie ihr Bruder.
Morwen holte tief Luft, aber die Stimme ihres Lehrers in ihren Gedanken ließ sie verstummen, bevor sie den Mund öffnen konnte.
_Sag jetzt nichts. Dein Bruder wird es nicht verstehen, und Joreth ist bereits dabei, sich nach einer Alternative umzusehen. Oder was meinst Du, warum er von draußen kam...
Er schloß die Augen für einen Moment.
Ich bin froh, dass es Dein Bruder war und nicht mein eigener, denn wie Du siehst...
Er brach ab, als er bemerkte, dass Mara sich leise dem Tisch genähert hatte.
Das Mädchen setzte sich und beobachtete desinteressiert, wie der Wirt mit kriecherischer Freundlichkeit das Frühstück auftischte.
Sie nahm sich eine Teetasse und trank einen Schluck, während die anderen sich über die Köstlichkeiten hermachten.
Auch Morwen gähnte, und Amaion rieb sich die Augen.
Die wenig erholsame Nacht machte sich immer stärker bemerkbar.