Lektion 1
Amaion sah sich nicht um, als er das Zimmer betrat, das bisher das der Frauen gewesen war.
Er überließ es Morwen, die Tür hinter sich zu schließen.
Alles in ihm sträubte sich dagegen, zu beginnen, was er seinem Lehrmeister versprochen hatte.
Mit langsamen, konzentriert gleichmäßigen und ruhigen Schritten ging er zu dem Bett, das Micayas gewesen war. Wieder fuhren seine Finger nur halb bewusst fast zärtlich über den Stoff von Micayas Nachthemd, aber als er merkte, dass Morwens Blick auf seinen Fingern ruhte, zog er schnell die Hand weg.
Er hob den Kopf , verwob die Finger auf seinem Schoß und sah die junge Frau an, die sich nun zögernd ihm gegenüber auf ihrem eigenen Bett niederließ.
__„Nun wirst Du mir alles über Dich erzählen. Wenn es Dir leichter fällt, fang damit an, was Du beim Orden machst wie Du dort hingekommen bist. Aber versuch nicht, mich anzulügen – ich würde es merken.“
Morwen schluckte.
Es fiel ihr nicht leicht, über sich selber zu sprechen.
Es gab so viele Dinge, an die sie sich nicht erinnern wollte...
Ein Teil von ihr lehnte sich auf.
__„Warum sollte ich Dir das erzählen? Ich dachte,
Du bist es, der
mir etwas beibringen soll!“
Amaion seufzte.
Er hatte fast damit gerechnet.
__„Es geht um Vertrauen, und darum, dass ich Dich genau kennen muss. Wie soll ich Dir sonst helfen können...“
Er brach ab.
Morwen konnte aber fühlen, dass er sich um
ihr Wohlergehen sorgte.
Und das er sich wünschte selber mehr Hilfe gehabt zu haben.
__„Nun gut. Ich ... versuche ... es mal.“
Amaion konnte sehen, wie das Mädchen kurz die Augen schloß.
__„Ich konnte meine Grundausbildung in den Kampffähigkeiten meines Volkes sehr schnell abschließen. Meine Meisterin sagte, ich sei ein Naturtalent. So habe ich früh angefangen, das Böse zu bekämpfen. Ich weiß nicht, wie alt ich damals war...“
Morwen verlor den Faden.
Sie starrte für einen Moment verunsichert in die leere Luft, bevor sie mit leiser Stimme fortfuhr.
__„Ich streifte durch die Wälder. Irgendwann kam ich an das Lager eines jungen Mannes. Er schlief. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt hat, einfach nur stehenzubleiben, denn es war eine starke dämonische Aura von ihm zu spüren. Aber er schlief... Ich konnte ihm nichts tun, es wäre unrecht gewesen. Während ich noch da stand und nicht wusste, was ich tun soll, sprangen ein paar bewaffnete Männer aus dem Gebüsch. Sie stürzten sich auf den Mann – er war hilflos, sie waren in der Überzahl, und er hatte geschlafen. Er hatte keine Waffe in der Hand...“
Amaion lächelte leicht.
__„Du musst Dich für nichts entschuldigen. Du hast richtig gehandelt.“
Morwen senkte den Kopf.
__„Ich habe ihm geholfen, doch im Kampf wurde ich verletzt. Ich verlor das Bewusstsein – die Waffe war wohl vergiftet. Als ich wieder zu mir kam, war ich im Hauptquartier des Ordens. Ich geriet in Panik.“
Amaion nickte.
__„Sie haben mich mit dem allergrößten Respekt behandelt. Trotzdem hat es lange gedauert, bis ich begonnen habe, ihnen zu vertrauen...“
Die junge Assassin richtete sich auf, und der Blick, der nun Amaions Augen traf, hatte etwas Majestätisches.
__„Was ich im Orden tue? Ich gehöre als einziges vollkommen menschliches Wesen zu einer Truppe, die den Orden schützen und leiten soll.“
Amaion saß einen Moment lang nur da und dachte nach.
__„Meine Aufgabe ist es jetzt wohl,
Dich zu schützen...“
Langsam erhob sich der Necromancer und ging zu der Assassin hinüber.
Die wenigen Schritte schienen eine Ewigkeit zu dauern.
Er setzte sich neben sie.
__„Jetzt wirst Du mir zeigen, was Du mir nicht erzählt hast...“
Damit streckte er die Hand aus und berührte ihr Gesicht.
Morwens Körper verkrampfte sich, während ihr Geist sich gegen den Zugriff des Älteren wehrte.
Amaion zwang sie, ihn anzusehen.
_Das war nicht meine Idee, und es ist wichtig.
Tränen liefen über das Gesicht der jungen Frau, während eine Masse von Bildern an ihrem inneren Auge vorbeiflog. Es waren zu viele, zu schnell um sie festzuhalten, sie konnte nicht einmal beurteilen,
was es war, was Amaion da sah.
Eine kurze Ewigkeit später zog er seine Hand zurück.
Er hatte nicht alles angesehen – war er doch sicher, dass er die übrigen Dinge früher oder später auf andere Weise erfahren würde – aber das, was er gesehen hatte, reichte, um kaltes Grauen hervorzurufen.
__„Wie um alles in der Welt haben sie Dich so rauslassen können? Sind die wahnsinnig?“
Seine Hände zitterten wieder leicht.
__„Ein Mensch mit einer solchen Macht – die ihm nichtmal bewusst ist – ist eine Gefahr für sich und seine Umwelt. Man muss ihn ausbilden, die Kräfte zu beherrschen, damit er nicht von ihnen beherrscht wird. Aber Du hast
gar keine Ausbildung erhalten! Sind denn nur Narren übrig geblieben?“
Die Stimme seines Lehrmeisters mischte sich in seine Gedanken.
_Du bist der Einzige für diese Aufgabe.
Amaions Antwort klang fast schon verzweifelt.
_Wie das? Ich habe noch nie jemanden ausgebildet...
Er konnte den anderen lachen hören.
_Bist Du Dir da so sicher?
Micaya.
Joreth.
Er hatte ihnen das ein- oder andere untergeschoben, im Laufe der Jahre.
Aber dies war etwas anderes.
Die junge Frau neben ihm war es, die nach einer Weile das Schweigen brach.
__„Ich erinnere mich... an ein Gespräch, das ich einmal belauscht habe...“
Zögernd griff sie nach der Hand des Necromancers.
Der konnte die Bilder sehen, die sie vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen ließ.
_Ein dunkler Raum, drei große Gestalten in der hintersten Ecke
_...
__„Sie ist eindeutig Rein Menschlich“
__„Aber dafür hat sie viel zu viel von der Macht, sie bringt zu viel von Natur aus mit. Normalerweise bekommt ein Mensch sie erst von uns!"
__„Sie weiß nicht, dass sie so Stark ist, sie ist sich der Macht nicht bewusst. Sie kann sie in keiner weise Kontrollieren!“
__„Wir müssen ihr zeigen wie man damit umgeht sonst kommt sie noch auf den falschen weg, schau sie dir an, sie hegt jetzt schon dunkle Gedanken.“
__„Nein wir werden sie nicht Trainieren!“
__„Warum?“
Morwen ließ Amaions Hand wieder los.
__„Hast Du es gesehen?“
Der ältere nickte.
Er war beeindruckt.
Es wurde von Schülern nicht erwartet, so etwas so schnell aus eigener Kraft hinzubekommen.
In seiner eigenen Erinnerung fand sich eine ähnliche Szene – auch er hatte vor langer Zeit andere belauscht.
In dem Fall seinen eigenen Lehrmeister – und ...
_...nein, nichtmal denken, dies ist zu gefährlich...
Sie hatte ihn gefragt, wann er Amaion sagen wolle, das dieser ihm überlegen sei.
Amaion war geflüchtet, bevor er die Antwort gehört hatte – aber der Geheimnismann hatte ihm gegenüber geschwiegen...
Der Necromancer schüttelte den Kopf.
Seine Schülerin sah ihn jetzt schon merkwürdig an – wenn er sich weiter in seinen Gedanken und Erinnerungen verlor, dann würde sie es früher merken – einfach mitlesen...
Da fiel ihm etwas ein, und er lächelte.
__„Ich danke Dir für Dein Geschenk, und ich biete Dir im Tausch ein Wenig meiner Erinnerungen...“
Zögernd ergriff Morwen die ihm entgegengestreckte Hand.
Was sie nun sah, war unglaublich.
Sie sah nicht nur die Szene, nein, sie war Amaion, fühlte, was er gefühlt hatte...
_Angst.
Furcht und Schmerz.
Etwas, das darauf wartete, wie gierige Hände seinen Geist zu durchwühlen, wenn die gewaltsam aufrechterhaltene Abschirmung auch nur ein kleines Bisschen schwächer wurde.
Tränen liefen dem Necromancer über das Gesicht und er war auf die Knie gefallen, als die Tür aufschwang.
Die Sorceress, die dort stand, streckte beide Hände aus und hob sein Gesicht, um es ansehen zu können.
__„Amaion?“
_Er saß in der Sonne vor der Hütte und beobachtete Maurynna, die mit einem Lied auf den Lippen ihren Garten pflegte.
Sie war eine Schönheit, er konnte gut verstehen, dass Joreth sie liebte.
Warum hatte er sie verlassen?
Grübelnd stand er auf und ging in den Wald, bis ihn eine Explosion direkt vor seinen Füßen aus den Gedanken riss.
Irritiert betrachtete er die Überreste des toten Eichhörnchens.
__„Du gehörst nicht hier her!“
Hass sprach aus den Worten des Mädchens.
Und Hass leuchtete aus ihren grünen Augen unter der weißen Mähne, die seinem eigenen Haar so sehr glich.
__„Lass Deine Finger von meiner Mutter, hast Du sie nicht schon genügend verletzt?“
_Das dritte Bild zeigte die gleiche Lichtung, wie die anderen beiden.
Unkraut wucherte, wo vorher Kräuter und Gemüse gewachsen waren, und die kleine Hütte verschwand fast unter der Masse der weißen Blüten eines undurchdringlichen Gewirrs aus Schlingenknöterich.
Drei Gräber lagen nebeneinander neben der Hütte.
Joreth kniete davor.
Er griff in die Tasche und zog ein paar Gegenstände heraus.
Auf das mittlere Grab legte er einen angeknacksten, mitgenommenen Sorceress-Orb, das linke erhielt einen kleinen, nichtmagischen Zauberstab, wie seinesgleichen ihn zu verwenden pflegte.
Auf dem dritten ließ der ältere drei Runen zurück, und als Amaion das Wort las, fragte er sich, ob es die Handlungen der Frau beschreiben sollte, oder das, was ihr angetan worden war.
Verrat war das, was Joreth an Nyreths Gebeinen zurückließ.
Ein paar Minuten sagte keiner der Beiden ein Wort.
Schließlich hob Morwen den Kopf.
__„Wie...“
__„Du wirst es bald selber genauso können. Schon wie Du mir Dein Bild gezeigt hast, ist mehr, als ich hätte erwarten können.“
__„So viel Schmerz...“ flüsterte Morwen.
Das Lächeln des Mannes war schmerzlich.
__„Es waren eigentlich angenehme Erinnerungen. Die schlimmen habe ich Dir erspart.“
_Für einen Moment war da ein Gesicht, es sah aus wie...
Bevor Morwen es festhalten konnte, was das Bild weg.
Amaion stand auf.
Mit zusammengekniffenen Augen und den Kopf an die Wand gelehnt stand er da, peinlich genau darauf achtend, dass es die der Assassin abgewandte Hand war, deren Fingernägel sich schmerzhaft in die Handfläche gruben.
Gewaltsam stieß er die Tür in seinem Kopf auf.
_Ich erinnere mich, wie Du mich Nacht für Nacht ans Bett gefesselt hast. Du hast ein Schweigen auf mich gelegt, niemand sollte meine Schreie hören. Ich kann das nicht, sie sie Dir an, sie ist noch ein Kind, ein kleines Mädchen, wie soll ich mit ansehen, wie sie so leidet?
Die Antwort kam sofort.
_Es war zu Deinem eigenen Schutz. Du hast Möglichkeiten, die mir nicht zur Verfügung standen, aber das Schweigen würde ich Dir raten – Du willst doch nicht, dass sie des Nachts die halbe Nachbarschaft zusammenbrüllt.
Das war nicht, was er sich zu hören gewünscht hatte.
Zögernd wandte er sich wieder Morwen zu.
Ihre innere Unruhe schien mindestens genauso stark zu sein, wie seine eigene.
Verzweifelt suchte er, in seiner Erinnerung einen Ruhepol, einen Anker zu finden, und er fand...
Maurynna und ihre Art die Welt zu sehen.
Es war so schön und friedlich gewesen...
Amaion schloss kurz die Augen und rief dieses Gefühl zurück.
Nur eine ausgezeichnete Selbstbeherrschung bewahrte ihn davor, angeekelt das Gesicht zu verziehen.
Anstelle der goldenen Wirbel, die sanft alles umgaben und sanft in seinen Körper sickerten, umgaben Morwen blutig rote Fäden, die von ihr ausgingen.
Er konnte den meisten nicht zum Ausgangspunkt folgen, aber einer kam direkt von ihm selber, und jetzt, wo er es sah, fühlte er auch das leichte, aber schmerzhafte Zerren an seiner Substanz.
Er konnte sein Versagen in den Augen der jungen Assassin ablesen.
Das aufflammende Entsetzen spiegelte sein Eigenes wieder.
Sie war aufgestanden, einen Schritt auf ihn zugelaufen, jetzt stand sie reglos da und starrte ihn an.
__„Was ist los? Was habe ich falsch gemacht?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
__„Nichts. Es ist nur...“
Er nahm sie am Arm und führte sie zurück zum Bett.
__„Setz Dich besser.“
Amaion wartete, bis Morwen sich niedergelassen hatte.
Erst dann begann er zu sprechen.
__„Ich habe gerade herausgefunden, woher Du Deine Energie nimmst.“
Die Hand der Assassin flog zu dem Amulett.
__„Nein, das ist es nicht. Sieh her...“
Seine Hand berührte ihre Augen, und sie folgte seinem Beispiel.
Sie sah rote, blutig aussehende Fäden, die aus allen Richtungen zu ihr liefen.
__„Was ist das?“
Amaion biss die Lippen zusammen.
__„Lebensenergie. Sie umgibt uns alle, fließt von einem zum anderen, aber das sieht anders aus. Wenn jemand sie an sich reißt, verfärbt sie sich...“
Er selber stand in einer Pfütze aus goldenem Licht.
Wie feine Staubteilchen wirbelte es um seine Füße, sickerte fort, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen.
Der Necromancer folgte dem Blick des Mädchens.
Er nickte.
__„Das ist die Quelle, die Du finden musst. Das, was die anderen Dir freiwillig geben.“
__„Und nun?“
Der Mann lachte.
__„Jetzt gehen wir erstmal wieder runter. Die anderen werden sich fragen, was wir so lange tun, und ich habe Hunger.“
Morwen nickte.
Sie folgte Amaion nach unten, wo größere Mengen Essen bereits auf dem Tisch standen.
Micaya grinste.
__„Ich hatte Hunger...“
Amaion lächelte ihr zu.
__„Ich auch. Und wenn ich mir die Auswahl hier ansehe, hast Du es ein bisschen zu gut mit uns gemeint...“
Er setzte sich neben Morwen.
Als die nach der Rumflasche griff, fasste er nach ihrer Hand und schüttelte unmerklich den Kopf.
Nicht unauffällig genug, Tscha sah die leichte Bewegung, und zu seinem Erstaunen zog seine Schwester die Hand zurück.
Der Druide beobachtete misstrauisch, wie Amaion fürsorglich Morwens Teller füllte und sie nicht aus den Augen ließ.
Amaion sah sich um.
Etwas fehlte.
Nein, nicht etwas, jemand.
__„Wo ist Simon?“
Tschas ohnehin missmutige Miene wurde, wenn möglich, noch mieser.
Micaya dagegen zog die Schultern hoch.
__„Er wollte sich was hinlegen, war nicht so begeistert davon, dass Du und Morwen noch oben verschwunden seid. Ich glaube er dachte...“
Amaion lachte leise.
__„Ich glaub, der Meinung ist noch einer hier...“
Er warf Tscha einen vielsagenden Blick zu.
__„Glaub mir,
das ist es nicht. Und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie um diese Aufgabe drücken...“
Joreth sah Amaion an. Dessen Blick glitt sofort auf die Finger seines Bruders neben dem Tisch.
_So schlimm?
Amaion nickte unmerklich.
_Ich habe Angst vor heute Nacht. Ich muss die Verbindung stark genug halten, dass ich alles mitbekommen werde, sonst kann ich ihr nicht helfen. Und...
Er zögerte einen Moment.
_Alleine von dem, was ich bereits gesehen habe, weiß ich, dass es grausam werden wird. Sie hat ihre eigenen Dämonen mit sich herumzuschleppen, auch wenn es in ihrem Fall übertragene solche sind...
Die gedrückte Stimmung wurde während dem Abendessen nicht besser, und als nach dem Essen Shar'Tel ein Spiel vorschlug, winkte Amaion ab.
__„Nein danke, ich werde mich schlafen legen.“
Er erhob sich und ging nach oben.
Micaya packte ihre Würfel aus, und die am Tisch übrig gebliebenen fingen an, zu spielen.
Es wurde ein kurzweiliger Abend, wenn auch Morwen zunehmend besorgt aussah.
Als sich schließlich die Versammlung auflöste, blieb sie noch kurz sitzen.
Schließlich stand aber auch sie auf und ging nach oben...