Micayas Männer
Micaya lag wach in ihrem Bett und starrte die Decke an.
Morwen und Shar-Tel schliefen tief und fest, sie aber fand einfach keine Ruhe.
Sie sah Amaions Gesicht vor sich, und sie fühlte die tiefe Einsamkeit die von ihm ausging.
Sie hatte ihn durchaus geliebt, auf ihre Art und Weise, und sie war daran gewöhnt, ihn an ihrer Seite zu haben. So war es jahrelang gewesen.
Ihr Bett kam ihr kalt und leer vor.
Sie hatte immer gewusst, dass etwas gefehlt hatte, und als sie das Leuchten in Tschas Augen gesehen hatte, wenn er sie ansah, da war klar gewesen, was es war.
Irgendetwas bewegte sich vor der Tür und das leise Geräusch riss die Assassin aus ihren Gedanken.
Sie stand auf und zog sich an.
Von der Tür aus konnte sie sehen, dass unter der Tür des Ausrüstungszimmers ein leichter flackernder Lichtschein hervor kam.
Micaya ging hinüber und öffnete die Tür.
Joreth hatte eines der Betten freigeräumt.
Da saß er jetzt, die Beutel mit Edelsteinen und Runen vor sich, seinen Cube auf den Knien.
Sein abwesender Blick hing an dem dreckverschmierten Fenster.
Micaya ging zum Bett und setzte sich neben den Necromancer.
__„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“
Der trockene, schmerzliche Klang seiner Stimme gefiel der Assassin nicht.
Sie griff ach seinem Arm.
__„Warum?“
Joreth zog den Arm weg.
__„Geh lieber, ich bin nicht sicher, ob Du mit meiner Reaktionen einverstanden bist, wenn Du jetzt bleibst...“
Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Kehle, wo ein feiner Schnitt von einem scharfen Dolch oder einer ähnlichen Waffe erkennbar war. Die Haut war nur gerade eben so angeritzt, als sollte es eine Warnung sein.
__„Noch einmal vertrage ich so etwas heute nicht...“
Micaya musterte die Wunde.
__„Ein Assassin-Dolch.“ kommentierte sie.
Joreth nickte langsam.
__„Sie sitzt noch immer in der nächsten Taverne, oder vielleicht hat sie inzwischen jemanden gefunden...“
Er seufzte leicht.
__„Sie hat mich mit auf ihr Zimmer genommen und es nicht nett gefunden, dass ich sie mit einem Namen angesprochen habe, der nicht ihrer war. Mit Deinem Namen.“
Joreth stand in dem kleinen Zimmer, er hatte der Assassin den Rücken zugewandt.
Seine Hände zitterten.
Er hatte bemerkt, dass – nachdem er sie nicht mehr mit Rynnas Tod in Verbindung brachte – Micaya eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte.
Es war ihm noch nichtmal aufgefallen, dass er stark von seinen gewöhnlichen Vorlieben abgewichen war, als er der Frau, in deren Zimmer er sich jetzt befand, folgte.
Sie war eine Assassin, klein, mit kurzen schwarzen Haaren und einem Spinnennetz aus Kampfnarben auf den Armen...
__„Es tut mir Leid, es war mir nicht bewusst...“
Der hochgewachsene Necromancer drehte sich langsam um und griff nach der Hand der Frau.
Sofort ließ er wieder los und tastete mit der Hand nach der oberflächlichen Schnittwunde an seinem Hals.
__„Ich glaube, ich gehe besser...“
__„Warte...“
Es war das Erste, was sie sagte, seit er sie Micaya genannt hatte.
__„Wie ist Dein Name?“
Der Necromancer lächelte.
__„Joreth.“
Die kleine Assassin griff nach seiner Hand.
__„Aniki, ich freue mich, Dich kennengelernt zu haben. Deine Micaya...“
Die Frau rieb das Zeichen auf ihrem Ärmel.
Nie war es ihr so schwer und schmerzhaft vorgekommen wie heute.
__„Ihre Mutter hieß Nytreth?“
Der überraschte Gesichtsausdruck war Antwort genug.
Die Frau nickte.
__„Sag mir nicht, wo sie ist, und daher auch nicht, wo Du zu finden bist. Ich will es nicht wissen.“
Sie streckte ihm den Arm hin, damit er das Zeichen der Henkerfamilie genau ansehen konnte.
__„Ich bin die Letzte, also gehört der Auftrag mir. Sag ihr...“
Die Assassin holte tief Luft.
__„Wenn Du jemals die passende Gelegenheit dafür findest, sag Mic, Ani hättet gesagt, es seien niemals alle einverstanden gewesen mit diesem Vorgehen, und ich hätte mich immer dagegen gewehrt, dass ein Kind für mögliche Verbrechen seiner Eltern zum Tode verurteilt wird.“
Ein schwaches Lächeln machte sich auf dem Gesicht der Frau breit.
__„Du darfst mich gerne ein andermal besuchen, auch wenn Du mich bei ihrem Namen nennst...“
Joreth nahm die kleine Frau kurz in den Arm.
__„Vielleicht werde ich das tun.“
Damit verließ er den Raum...
Micaya griff nach Joreths Hand.
__„Warum hast Du nichts gesagt?“
Joreth schüttelte den Kopf.
__„Ich habe Dich abgewiesen, weißt Du das nicht mehr? Mehr als nur das, ich habe jede Gelegenheit benutzt, um Dich zu quälen.“
Er versuchte, die Hand wegzuziehen.
__„Micaya, bitte…“
Die Assassin schüttelte den Kopf.
__„Du hast mir beigebracht, Leichen zu sprengen. Du hast mir geholfen, wenn Amaion sich wie ein Narr aufgeführt und unter den Tisch gesoffen hat.“
Ihre zweite Hand fasste ebenfalls nach der Hand des Necromancers.
__„Micaya, nicht...“
Joreth beging den Fehler, sie anzusehen.
Seine Blicke trafen die ihren, und die dunklen Augen hielten ihn gefangen.
Bevor er wusste, was er tat, hatte er sich vorgebeugt und sie geküsst.
Micaya klammerte sich mit einem leisen Schluchzen an ihn.
__„Du warst es immer, wusstest Du das?“
Joreths Arme schlossen sich um die Assassin.
__„Ich wusste es. Aber..“
Micaya legte ihm den Finger auf die Lippen.
__„Wenn ich daran denke, kann ich noch nicht einmal verstehen, dass Du mich jemals so nahe geduldet hast.“
Der Schatten in der Ecke wandte sich ab.
Er wollte nicht mit ansehen, was jetzt kam.
Als er den Kopf wieder dem Bett zuwandte konnte er sehen, dass Joreth der Assassin eine Träne aus dem Gesicht wischte.
Micaya sah den Necromancer unglücklich an.
__„Es ist Tscha. Du liebst den Jungen wirklich, nichtwahr?“
Die Assassin senkte den Kopf.
__„Er wird mich hassen.“
Joreth schüttelte den Kopf.
__„Er wird es nicht verstehen, und er wird
mich hassen.“
Er seufzte.
__„Zu Recht, fürchte ich.“
Eine sanfte Hand zwang Micaya, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
__„Aber wenn Du ihn liebst, was machst Du dann hier, in meinen Armen?“
Sie lachte.
__„Du wirst es mir nicht glauben.“
Feine Lachfältchen erschienen in den Augenwinkeln des Necromancers.
__„Versuch es einfach.“
__„Ich hatte Angst, dass er wegläuft.“
Auf dem Gesicht des Necromancers machte sich ein Grinsen breit. Er erinnerte sich an eine entsprechende Situation.
__„Das wäre durchaus möglich...“
Er richtete sich auf und angelte nach seinen Kleidungsstücken.
__„Aber zu verhindern. Geh zu ihm, ich schließe hinter Dir ab.“
Wenig später saß er wieder alleine auf dem Bett.
Sein Blick glitt in Richtung einer Zimmerecke.
__„Hat er Dir Spaß gemacht, uns zu beobachten?“
Vollkommen lautlos trat Amaion aus dem Schatten.
__„Ich habe nicht hingesehen.“
Er setzte sich neben seinen Bruder.
__„Du hast in den letzten paar Tagen mehr von Deinen Fähigkeiten eingesetzt als die 10 Jahre davor.“
__„Ich muss lernen, damit zu leben, was ich bin... was Micaya betrifft, ich habe immer damit gerechnet. Aber ich hätte nicht gedacht, dass Du bereit wärst, sie wieder herzugeben.“
Der Ältere lachte trocken.
__„Ich bin nicht bereit dazu, aber habe ich eine Wahl?“
Amaion schnaubte.
__„Man hat immer eine Wahl!“
__„Sagt der, der sie von sich geschoben hat und jetzt aussieht wie auf einer Beerdigung.“
Der Blick des Jüngeren enthielt nur Trauer als er antwortete.
__„Sie war unglücklich. Und sie hat mich nie so geliebt.“
Micaya stand in dem Zimmer, das Tscha sich mit Joreth teilte.
Die abgeschlossene Tür in ihrem Rücken vermittelte ein trügerisches Gefühl der Sicherheit.
Andererseits...
Sie warf einen Blick zum Ofen.
Tatsächlich, Tscha schien einige von Joreths Angewohnheiten kopiert zu haben.
Seine Kleidung hing auf den Stangen am Ofenrohr.
Auch Joreth wusch seine Kleidung oft abends und schlief dann nackt...
Schnell entledigte sie sich ihrer eigenen Kleidung und setzte sich an die Bettkante.
Der hochgewachsene Druide träumte.
Er sah Micaya, sie stand da und strahlte ihn an, und er liebte sie mehr als je zuvor.
Er streckte seine Arme aus, aber da standen plötzlich Joreth und Amaion rechts und links von der Assassin, einen Arm um sie gelegt, eine Geste, die sie erwiderte.
Alle drei sahen Tscha an, sahen seine Enttäuschung, den Wunsch, selber Micaya im Arm zu halten...
Und sie lachten,… lachten ihn aus.
Tscha wollte sich abwenden und weglaufen, aber er war wie gelähmt.
Er konnte nichtmal den Kopf abwenden.
Er öffnete den Mund um zu schreien, aber es kam nur ein klägliches Wimmern heraus....
Eine kleine Hand schüttelte ihn sanft aber energisch an der Schulter.
__„Hattest Du einen Alptraum?“ fragte Micayas Stimme.
__„Du hast im Schlaf gewimmert...“
Tscha erschrak, als die Assassin mit einer raschen Bewegung zu ihm unter die Decke kroch.
Mehr als alles in der Welt wollte er sie an sich ziehen, und...
Lieber nicht darüber nachdenken.
So sehr er sich es auch wünschte, er traute sich nicht.
Micaya lachte leise, aber es war nicht das spottende, höhnische Gelächter seines Alptraums.
__„Ich möchte Dir ja nicht zu nahe treten, aber eigentlich hatte ich das mir was anders vorgestellt...“
Der Druide streckt zögernd seine Arme aus.
Amaion verzog leicht schmerzlich das Gesicht.
Sein Bruder zog die Augenbrauen hoch.
__„Ich kann also wieder aufschließen.“
Der andere nickte und stand langsam auf.
__„Leihst Du mir Dein Buch? Schlafen kann ich heute wahrscheinlich eh nicht...“
Der Ältere nickte und reichte ihm das zerlesene Exemplar.
__„Ich nehme dann Dein Bett, wenn es Dich nicht stört, das hier...“
__„Riecht nach Micaya.“ ergänzte Amaion leise.
Joreth wandte das Gesicht ab.
Als er seinen Bruder wieder ansah, hatte er ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
__„Wie war eigentlich Lia?“
__„Weich und warm, ...“ Amaion brach ab.
__„Und nichtssagend.“ ergänzte Joreth das, was sein Bruder nicht ausgesprochen hatte.
Amaion nickte.
Damit ging er hinunter und setzte sich an einen der leeren Tische.
Die trostlose Leere des verlassenen Schankraums war durchaus passend für seine Stimmung.
Er zündete eine Lampe an und begann zu lesen.
Oder vielmehr: auf die Seiten bedruckten Papiers zu starren...
Er bemerkte nicht, wie das Licht sich änderte.
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen durch das Fenster, als Shar'Tel die Treppe herunterkam und sich zu Amaion an den Tisch setzte.
Der Necromancer nahm keine Notiz von ihr, im Gegenteil, er schrak leicht zusammen, als sie ihn ansprach.
__„Die Kanne ist alle, ich geh mal Kaffee holen. Willst Du auch welchen?“
Sie erntete nur einen irritierten Blick.
__„Lass mal, ich geh mir einen Schlafplatz suchen...“
Er sah müde aus, als er die Treppe hinauf ging.
Oben im Flur blieb der Necromancer stehen.
Er hatte die Hand schon am Türgriff des Ausrüstungszimmers, da kam ihm ein Gedanke.
Er betrat das Zimmer, das sich die Frauen teilten, ging zu Micayas Bett und setzte sich.
Langsam strichen seine Finger über das Kopfkissen.
Ein leises Geräusch ließ ihn aufsehen.
Morwen saß in ihrem Bett, die Decke fest um sich gezogen, in den Augen leichte Panik.
Der Necromancer schüttelte den Kopf.
__„Schlaf weiter, beachte mich einfach nicht. Joreth liegt in meinem Bett, und ich...“
Er brach ab, wandte sich ab und legte sich in das Bett.
Er zog die Decke über den Kopf und vergrub das Gesicht in Micayas Nachthemd.
Schmerz und Einsamkeit schlugen Morwen entgegen und das Gefühl und Verlust, merkwürdigerweise aber auch ein Wenig Erleichterung.
Sie spürte einen Hauch von seinem Gefühl, die Liebe anderer eh nicht verdient zu haben, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, zu Amaion zu gehen und ihn zu trösten.
Dann war es schlagartig vorbei, als wäre nichts gewesen.
Der Necromancer hatte seine Abschirmung wieder im Griff, schlimmer noch, er hatte sie verstärkt.
Es fühlte sich an, als würde etwas
fehlen auf der anderen Seite des Raumes.
Einen Moment hatte sie einen Blick in sein Herz werfen können, und was sie dort zu sehen bekommen hatte, war anders als alles, was sie bisher erfahren hatte.
Morwen seufzte leise, während sie sich entspannte.
Sie konnte einfach keine Angst vor einem Menschen haben, der nur Kummer – und Liebe – aussendete.