Ein steiniger Weg
Amaion stand am Fenster.
Der leicht flackernde Schein der heruntergedrehten Lampe tauchte das Zimmer in ein schwaches, aber warmes Dämmerlicht.
Es war noch dunkel draußen, aber der Dämon brauchte wenig Schlaf, und er war froh, dass zumindest Morwen es inzwischen schaffte, nach ihren Alpträumen wieder in einem unruhigen, aber trotzdem ein wenig erholsamen Schlaf versank.
Es wurde nicht besser, und die Schuldgefühle, die das Mädchen seit Anikis Tod quälten, verschlimmerten das Ganze nur noch zusätzlich.
Jede Nacht war es schwerer, sie in die Realität zurückzubringen und zu trösten.
Und jeden Tag fiel es
ihm schwerer, sie zu berühren.
Jede Nacht ging er, wenn Morwen wieder eingeschlafen war, zu Lia, manchmal fand er auch tagsüber den Weg zu dem hübschen Zimmermädchen. Aber es half nicht.
Die Sehnsucht wurde nicht weniger, und er schaffte es nicht mehr, die Augen zu schließen, ohne ein bestimmtes Gesicht zu sehen. Morwens Gesicht.
Lia wusste, dass sein Herz nicht ihr gehörte – sie hatte es nie anders erwartet.
Ihr selber wäre wohl Joreth lieber gewesen, aber der holte sich
seine Streicheleinheiten anderswo.
Amaion war sich nicht bewusst, wie finster der Blick war, mit dem er die Wand anstarrte.
__„Warn mich, bevor da Steine rausfallen, ich würde gerne rechtzeitig in Deckung gehen...“
Der Necromancer sah überrascht in Richtung der Stimme.
Morwen war noch wach – sie saß in ihrem Bett und zog in einem Anflug von schrägem Humor die Augenbraue hoch.
Dieses Bild – und die Vorstellung dessen, was sie zu ihrem Kommentar veranlasst hatte – war einfach zu viel.
Amaion lachte.
Er lachte, wie er seit Jahren, ja, Jahrzehnten nicht gelacht hatte.
Tränen liefen ihm über das Gesicht, und er schnappte nach Luft.
Morwen lachte mit ihm, und das war das Schönste, was er seit Langem erlebt hatte.
Noch immer lachend ging er zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.
Es gab nichts, was an Ernsthaftigkeit, Angst oder Schmerz erinnerte in diesem Moment, nur einfach dieses lachende Gesicht...
Als die Lippen des Necromancers die der Assassin sanft berührten, konnte er sie mit jeder Faser seines Seins fühlen.
Schlagartig kehrte die Realität zurück.
Vorsichtig schob er ihre Arme fort und trat einen Schritt zurück.
__„Es tut mir leid, es wird nicht wieder vorkommen...“
Damit wandte er sich um und verließ den Raum.
Draußen angekommen lehnte ich der Necromancer schwer atmend an die Wand.
Was war nur in ihn gefahren?
Dies war seine Schülerin, ein Mensch, den er als Kind, als zu beschützendes Wesen, aber nicht
derartig zu sehen hatte...
Joreths Stimme weckte ihn aus seinen Gedanken.
__„Kannst Du was mitnehmen? Sie will immer, dass ich bleibe, aber ich bin bedient...“
Amaion nickte schwerfällig und griff nach der Urkunde, die sein Bruder ihm hinhielt.
Sorgfältig verstaute er das Papier unter seinem Hemd.
Dann ging er langsam zum Ende des Flures.
Morwens Lippen brannten wie Feuer.
Irritiert starrte sie auf ihre zitternden Hände.
Warum war er weggegangen?
Sie hatte das nicht gewollt, es fühlte sich so falsch an, alleine in diesem Zimmer zu sein.
Falsch war das richtige Wort, sie fühlte sich komisch.
Angst stieg in ihr auf.
Wo war Amaion?
Er war immer da, um sie zu trösten, ihr die Angst wegzunehmen. Warum war er jetzt nicht da?
An Schlaf war jetzt eh nicht mehr zu denken, da konnte sie auch aufstehen und etwas essen...
Morwen zog sich um, dabei bewegte sie sich langsam und vorsichtig, um ihren unzuverlässigen Körper zu Gehorsam zu zwingen.
Als sie die Tür leise hinter sich schloss, hatte sich das Zittern fast gelegt.
Etwas war dort, am Ende des Flures.
Die Augen folgten ihrem Gehör, und tatsächlich – dort stand Amaion.
Er hatte Morwen den Rücken zugewandt, und augenscheinlich lag seine volle Aufmerksamkeit im Moment auf etwas anderem.
Morwen sah, wie sich eine Hand auf die Schulter des Necromancers schob, und sie hörte eine Frauenstimme leise lachen, während Amaion sich an seiner Hose zu schaffen machte.
Ein dicker Klumpen schien den Hals der jungen Assassin zuzuschnüren.
_Er wird Dich verraten, er ist auch nur ein Mensch, schlimmer, ein Mann...
Die Stimme in ihren Gedanken war süß und vertraut.
Sie wollte nicht sehen, wie das Mädchen bei Amaion seinen Rock hob, wie es die Beine um ihn schlang.
Morwen drehte sich um und schlich die Treppe hinunter, so leise, wie es irgendwie möglich war, damit die beiden sie ja nicht bemerkten.
Unten angekommen begann sie, zu rennen.
Joreth musterte ratlos die dampfende Kanne vor sich und fragte sich, was ihn dazu bewegt hatte, ausgerechnet diese Kräuter zu wählen.
Bis auf den Lavendel schmeckte keines davon – und insgesamt war der Tee einfach bitter.
Als er hastige Schritte in Richtung Gaststube hörte, stand er auf.
Es war Morwen, die hereingestürzt kam, die schreckgeweiteten Augen auf die Tür gerichtet, als wollte sie – mit nur dem nicht übermäßig warmen Kleid bekleidet – fortlaufen, um nicht wieder zu kommen.
Mit einem leisen Seufzen trat Joreth ihr in den Weg.
Es würde immer er sein, der die anderen wieder zur Vernunft brachte...
Morwen entfuhr ein Aufschrei, als sie gegen seinen Körper prallte.
Panikartig schlug sie um sich.
Der Necromancer fing ihre fliegenden Hände mühelos ein und hielt sie fest.
__„
Morwen. Morwen. Morwen. MORWEN!“
Es dauerte ein Weilchen, bis seine ruhige Stimme bis zu ihr durchgedrungen war.
Schließlich tauchte ein Fünkchen Wiedererkennen in ihren Augen auf, und Joreth ließ ihre Hände los. Der Necromancer legte einen Arm um sie und führte sie zum Tisch.
Fürsorglich schob er ihr den Stuhl zurecht und drückte ihr einen Becher Tee in die Hand.
Die dampfende Flüssigkeit roch so bitter, wie sie schmeckte, doch Morwen trank gehorsam, und langsam wurde das Zittern ihrer Hände weniger.
Joreth wartete geduldig.
Er hatte Zeit, und es war ihm wichtig, dass die junge Assassin ruhig genug war um aufzunehmen, was er ihr zu sagen hatte.
__„Amaion.“
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Morwen nickte langsam.
__„Wie konnte er nur? Ich...“
Joreth streckte die Hand aus und berührte die Assassin leicht am Arm.
__„Du warst Dir dessen nicht bewusst, dass Amaion ein Mann ist. Gut, er ist einer, und er hat seine Bedürfnisse, durch die Anwesenheit des Dämons sogar deutlich ausgeprägter als jeder von uns anderen.“
Er schloss sich nicht aus, aber irgendwie wirkte er trotzdem nicht bedrohlich.
Im Gegenteil – seine Art hatte etwas beruhigendes.
Ein Lächeln erschien auf den Lippen des Necromancers.
Ein weiteres Puzzleteil schien zu passen, sie reagierte so, wie er es erwartet hatte.
__„Morwen, hast Du je daran gedacht, dass er zu Lia geht um Dich zu schützen?“
Entgeistert starrte das Mädchen ihn an.
__„Ich verstehe nicht...“
Die Antwort war ein leises Lachen.
__„Morwen, Ich
weiß, dass Du ihm wichtiger bist als alles in der Welt – und er fühlt sich für Dich verantwortlich. Es wäre ein Vertrauensbruch, wenn er
seine Bedürfnisse dazwischenkommen lassen würde.“
Das Lächeln um seinen Mund enthielt nun leichten Spott.
__„Oder ist es
das, was Dir Probleme bereitet?“
Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich in Morwen ausgebreitet.
Ruhe, alle Angst war irgendwie in den Hintergrund getreten.
Irgendwie schien die ganze Szene etwas irreales an sich zu haben. Aber sie verstand nicht, was Joreth meinte.
__„Morwen, was hat Dich mehr verängstigt oder verletzt – die Tatsache, dass er ein Mann ist und seine Bedürfnisse hat – oder die, dass er damit zu
Lia geht?“
Gut, jetzt war die Angst wieder da.
Morwen starrte den Joreth entsetzt an, was diesem bestätigte, was er bereits vermutet hatte.
__„Morwen, ich weiß, dass Dir jemand weh getan hat – ich vermute, Du kennst nichts anderes als Gewalt. Er weiß das nicht, und er hat vor noch nicht allzu langer Zeit
zwei Frauen verloren, die er geliebt hat. Er wird Deine Angst für Ablehnung halten.“
Morwens Hals war trocken, es fiel ihr schwer, auch nur einen Ton zu erzeugen, geschweige denn einen vollen Satz zu sprechen.
__„Er – hat mich geküsst...“
Joreth nickte.
__„Das erklärt, warum er es so eilig hatte, dass er sich nichtmal die Zeit genommen hat, ein freies Zimmer zu finden. Du hast die beiden gesehen, nichtwahr?“
Es war eine rhetorische Frage, sie erforderte keine Antwort.
__„Er will Dich
schützen, nicht Dir weh tun, vergiss das nicht.“
Der Necromancer füllte die Tasse ein weiteres Mal mit dem beruhigenden Kräutertee, und Morwen trank.
Bleierne Müdigkeit breitete sich aus.
Nicht, dass die Müdigkeit vorher nicht vorhanden gewesen wäre. Morwen hatte seit Wochen nicht richtig geschlafen. Aber der Tee und Joreths ruhige Art hatten sie dazu gebracht, sich ein Wenig zu entspannen, und jetzt fiel es der jungen Assassin schwer, die Augen offen zu behalten.
Mühsam erhob sie sich und wandte sich in Richtung Tür.
__„Morwen...“
Einen Moment hielt sie inne.
__„An dem Tag, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben – Du hast versucht, mit Gewalt zu vergessen, nichtwahr? Indem Du Dich betrunken und dem nächstbesten Mann an den Hals geworfen hast, der nicht ganz so gefühllos aussah.“
Das Mädchen antwortete nicht.
__„Deine Wahl war nicht ganz falsch. Es hätte funktionieren können, wenn ich bereit gewesen wäre,
mir zu vergeben. Deinem Volk zu vergeben. Oder auch in Dir etwas anderes als ein Kind zu sehen...“
Seine Stimme war leise, und man konnte etwas Bedauern über die verlorene Chance heraushören.
__„Amaion ist besser für Dich, ich mag lieber erwachsene Frauen, die schon Kinder geboren haben...“
Morwen wandte sich noch einmal um.
__„Es tut mir leid, dass ich Aniki getötet habe, ich wünschte, ich könnte sie Dir zurückgeben...“
Tränen flossen aus ihren sonst so zwanghaft trockenen Augen.
__„Ich habe Dir die Frau genommen, die Du geliebt hast, und Du bist so freundlich zu mir...“
Joreth senkte den Kopf.
__„Eine Frau, die schon Kinder geboren hat.“ wiederholte er leise.
__„Aniki hätte mir das nicht bieten können, aber sie wäre etwas mehr als ein schwacher Ersatz gewesen.“
Morwen erinnerte sich an das Gesicht der Älteren, aber sie war zu müde, um interpretieren zu können, was er meinte.
Mit schweren Füßen schlurfte sie die Treppe hinauf und ging in ihr Zimmer.
Dort angekommen schüttelte sie müde die Schuhe von den Füßen.
Sie zog das Kleid aus und warf es in die Ecke.
Sollte es doch zerknittern, sollte es doch unansehnlich sein.
Sie mochte es nicht mehr tragen.
Langsam griff sie nach ihrem Nachthemd.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, das Amaion hatte, als er das Zimmer betrat.
Einerseits fühlte er sich leichter – als sei eine gewisse Last von ihm genommen.
Andererseits fühlte er sich nicht gut dabei.
Es hatte sich in gewisser Weise falsch angefühlt – so wie es sich in den Jahren mit Micaya falsch angefühlt hatte, eine andere Frau auch nur anzusehen.
Er hörte, wie Morwen erschrocken die Luft ausstieß, und als er den Kopf ihr zuwandte, stand sie neben ihrem Bett – nackt, bis auf den Lendenschurz, das Nachthemd in der Hand, und in ihren Augen blankes Entsetzen.
Er kannte diesen Blick, oft genug hatte er ihm, Amaion, gegolten, wenn er die Körper seiner Wirte benutzt hatte.
Doch das letzte Mal, als er diesen Blick gesehen hatte, hatte es bereits weh getan.
Wieder fühlte er Allerias Angst, die Kraft, die davon ausging, aber auch den bitteren Nachgeschmack, den ihr Schmerz hinterließ...
__„Morwen, Kind, es tut mir leid – ich konnte nicht wissen...“
Er drehte sich langsam um, wandte ihr den Rücken zu.
__„Du kannst Dich anziehen, ich sehe nicht hin.“
Ein leises Geräusch erweckte seine Aufmerksamkeit, und er wandte vorsichtig den Kopf wieder um.
Morwen hatte ihr Nachthemd fallengelassen und war einen Schritt auf ihn zugegangen.
Tränen standen in ihren Augen, als sich ihre Blicke trafen.
__„Ich bin kein Kind mehr, Amaion.“ flüsterte sie.
__„Aber das ist der einzige Schutz, den ich Dir bieten kann.“
Sie war mager, er konnte die einzelnen Rippen durch ihre Haut schimmern sehen, aber nichtsdestotrotz war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte, ganz gleich, ob zahllose Narben unterschiedlichen Alters ihre Arme übersäten.
Morwen senkte ihren Blick und verbarg das Gesicht in den Händen.
Lange stand sie reglos so da, hilflos, einsam – Amaion wünschte sich nichts mehr, als die wenigen Schritte zu überwinden, die zwischen ihnen lagen, und die junge Frau in den Arm zu nehmen.
Kaum hörbar war ihre Stimme, als sie endlich wieder sprach.
__„Ich brauche keinen Schutz vor Dir, Amaion.“
Amaion machte einen Schritt, dann blieb er stehen und breitete die Arme aus.
Lange hielt er sie einfach nur fest, dann bückte er sich, hob das Nachthemd auf und streifte es ihr über den Kopf.
Erst dann wagte er es, sie zu küssen.
Sie war so verängstigt, so voll Schmerz...
Er würde viel Geduld haben müssen, aber diese Frau war das mehr als wert.
Er sah ihre Erschöpfung und schob sie zum Bett.
__„Schlaf noch eine Weile, ich werde auf Dich aufpassen.“
Damit legte er sich neben sie, so dass ihr Kopf auf seinem einen Arm ruhte.
Das war die einzige Berührung, die er sich erlaubte, und er wusste, das würde auf lange Zeit so bleiben.
Erst als er sicher war, dass sie schlief, strich er mit der freien Hand sanft über ihr Gesicht.