Was steckt hinter der Sucht? Jeden Tag 4 Liter Coca-Cola
Dr. Ulrich Förstner, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg:
Eine 20-jährige Patientin trinkt seit vielen Jahren ca. 4 l Cola am Tag. Versuche, weniger zu trinken, sind immer wieder gescheitert. Selbst ein „Umsteigen“ auf eine andere Marke war nicht möglich. Die Patientin ist adipös und leidet an starker Verstopfung. Zusätzlich fi nden sich erhöhte Triglyzerid- und Cholesterin-Werte. Gibt es Erfahrungen mit einer solchen Sucht?
Die von Ihnen beschriebene „Coca-Cola-Sucht“ ist nach unserer Erfahrung in dieser speziellen Form ein Einzelfall. Bekannt sind jedoch Formen des Koffein-Missbrauchs bei unterschiedlichen psychiatrischen Erkrankungen sowie der Bulimia nervosa oder der Binge-Eating-Störung, die u.a. mit Verzehr hochkalorischer Getränke einhergehen können. Coca-Cola enthält neben ca. 100 g/l Zucker auch ca. 150 bis 200 mg/l Koffein, so dass die o.g. Patientin einen nennenswerten Koffeinmissbrauch von ca. 600 bis 800 mg Koffein (entsprechend ca. zehn bis zwölf Tässchen Espresso) betreibt.
Gegen eine Koffeinabhängigkeit (ICD-10: F15.2), deren typische Symptomatik allerdings umstritten ist, spricht der gescheiterte „Umstieg“ auf andere Cola-Marken. Da Koffein Antrieb, Wachheit, Lernfähigkeit, Sympathikotonus und Katecholaminkonzentration im Blut steigert und appetitzügelnde Eigenschaften hat, ist exzessiver Kaffee- oder Cola-Konsum als „Eigenbehandlung“ bei affektiven Störungen, Psychosen, aber auch Essstörungen zu beobachten. Bei der Patientin sind daher auch in Hinblick auf die beschriebene Adipositas und Blutfetterhöhung Informationen über eine mögliche aktuelle oder vorbestehende Essstörung wichtig.
Zudem können Esstagebücher sowie Verhaltensanalyse zusätzliche Hinweise geben. Die Binge-Eating-Störung unterscheidet sich von der Bulimia nervosa hauptsächlich durch fehlendes Kompensationsverhalten und häufi ger bestehende Adipositas. Beide Krankheitsbilder gehen mit Komorbidität - affektive Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, bei der Bulimie auch Impulskontrollstörungen und Abhängigkeitserkrankungen - einher. Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Diagnostik und eine darauf basierende Therapieplanung bessern daher die Therapiechancen. Sowohl bei Adipositas als auch bei den o.g. Essstörungen sind Süßhunger, Heißhungerattacken, vollständiges Zusammenbrechen mög licherweise rigider Kontrollmechanismen sowie z.T. extrem ritualisierte, fast zwanghaft erscheinende Essattacken zu beobachten.
Dennoch erscheint die alleinige suchtartige Kohlenhydratzufuhr für Binge-Eating-Störung oder Bulimia eher untypisch. Zu erwarten wären zumindest aus der Vorgeschichte andere Symptome dieser Essstörungen. Häufi ger werden bei diesen Störungen zusätzlich stark fetthaltige Speisen verzehrt, der durchschnittliche Kaloriengehalt der Essattacken liegt mit ca. 6000 kcal deutlich höher als die beschriebenen 1600 kcal (bei 4 l Coca-Cola).
Bei dem Problemverhalten könnte es sich somit bereits um eine Art Gegenregulation handeln (ver gleichsweise geringer Kaloriengehalt bei großen Volumina, regelmäßige Zufuhr von Koffein). In diesem Fall ist eine ausschließlich auf Symptomreduktion ausgerichtete Therapie ohne gleichzeitige Behandlung einer komorbiden Essstörung, affektiven Störung oder Persönlichkeitsstörung wahrscheinlich nicht Erfolg versprechend.